Das digitale Pflaster: Warum Software allein keine Prozesse rettet (und was stattdessen hilft)

Das digitale Pflaster: Warum Software allein keine Prozesse rettet (und was stattdessen hilft)
Photo by UX Indonesia / Unsplash

In vielen Unternehmen ist es ein vertrautes Muster: Ein Prozess weist Performance-Engpässe auf, produziert hohe Fehlerraten oder führt zu frustrierenden Verzögerungen in der Wertschöpfungskette. Die Lösung scheint oft schnell gefunden: Eine neue Software muss her! Sie soll die Prozesslogik strukturieren, Ausführungen automatisieren, KPIs überwachen und so die Gesamteffizienz steigern. Doch allzu oft stellt sich heraus, dass die teure Software-Investition nicht die erhoffte operative Exzellenz bringt. Stattdessen werden Ineffizienzen oder systemische Probleme manchmal sogar noch deutlicher – oder schlimmer, indem sie skaliert werden. Woran liegt das?

Die Antwort ist ernüchternd und einfach zugleich: Software ist meist nur ein digitales Pflaster auf einer tieferliegenden Wunde – dem eigentlichen, oft undurchdachten, mangelhaft spezifizierten oder fehlerhaften Geschäftsprozess selbst.

Wenn das Fundament wackelt: Software kann nicht zaubern

Stellen wir uns Software als ein extrem leistungsfähiges Werkzeug vor, vielleicht als eine komplexe Maschine in einer Fertigungslinie. Aber selbst die präziseste Maschine kann kein Qualitätsprodukt herstellen, wenn die zugeführten Materialien oder die vorgelagerten Prozessschritte fehlerhaft sind. Ein Geschäftsprozess, der nicht klar mittels definierter Semantik modelliert, auf Effizienz analysiert und optimiert ist, wird durch die Implementierung einer Software nicht automatisch besser. Im Gegenteil: Seine inhärenten Schwächen, logischen Fehler oder Dateninkonsistenzen werden digitalisiert und damit oft sogar in der neuen Systemlandschaft zementiert.

Ein klassisches Beispiel: Im Beschaffungsprozess eines Unternehmens fehlen klare Regeln, definierte Rollen (z.B. via RACI-Matrix) und validierte Freigabeworkflows. Anstatt diese prozeduralen und organisatorischen Aspekte sauber zu definieren und zu dokumentieren, wird eine neue Procurement-Software eingeführt. Diese erfordert jedoch genau diese Klarheit in den Stammdaten, der Prozesslogik und den Berechtigungskonzepten, um korrekt konfiguriert zu werden und ihre technologischen Stärken (z.B. automatisierte Bestellabwicklung, Lieferantenmanagement) auszuspielen. Das Ergebnis? Die Software-Implementierung scheitert an den Erwartungen, User-Acceptance-Tests (UAT) schlagen fehl oder die User sind frustriert aufgrund von Workarounds, und der Prozess stockt weiterhin – nur jetzt mit einer teuren Softwarelizenz und potenziell hohen Customizing-Kosten.

Warum ist dieser Reflex zur schnellen Software-Lösung so verbreitet?

  • Sichtbarkeit: Eine Software-Einführung ist ein greifbares Projekt mit definierten Meilensteinen. Es signalisiert Handlungsfähigkeit: "Wir tun etwas!"
  • Technologie-Glaube: Die Hoffnung, dass moderne Technologie, z.B. durch KI-gestützte Module oder fortschrittliche Algorithmen, inhärente prozessuale Komplexität auf magische Weise vereinfachen kann.
  • Marktdruck: Softwareanbieter versprechen oft Out-of-the-Box-Lösungen, schnelle Erfolge und Plug-and-Play-Implementierungen, die den Eindruck einer reinen IT-Aufgabe erwecken.

Die Realität ist jedoch, dass Software ineffiziente Prozesse oft nur beschleunigt und deren Schwachstellen deutlicher macht. Was vorher vielleicht informell oder mit manueller Improvisation irgendwie kompensiert wurde, wird nun zu einem strukturellen, softwaregestützten Engpass, der die Skalierbarkeit behindert oder zu Datenqualitätsproblemen führt.

Der oft übersprungene Schritt: Die Macht der Prozessanalyse und -modellierung

Bevor auch nur ein Gedanke an eine neue Software-Architektur oder -Auswahl verschwendet wird, muss der bestehende Prozess einer detaillierten Analyse und Bewertung unterzogen werden. Eine fundierte Prozessanalyse ist methodisch anspruchsvoll, manchmal unbequem im Hinblick auf die aufgedeckten Defizite, aber absolut unverzichtbar als Grundlage für jede Digitalisierungsstrategie. Hier geht es um Kernfragen wie:

  • Welche einzelnen Aktivitäten, Gateways und Events umfasst der End-to-End-Prozess tatsächlich (Ist-Modell)?
  • Wo existieren Redundanzen in Daten und Funktionen, systemische Medienbrüche (z.B. manuelle Datenübertragung zwischen nicht-integrierten Systemen) oder ineffiziente Iterationen und redundante Prozessschleifen?
  • Welche Rollen, Organisationseinheiten und Systeme sind involviert? Sind Verantwortlichkeiten klar und widerspruchsfrei definiert (z.B. durch SOX-konforme Kontrollen)?
  • Sind Regelwerke für Ausnahmebehandlungen, Eskalationspfade und Freigabehierarchien eindeutig und formalisiert definiert?

Um diese Fragen systematisch zu beantworten und Prozesse wirklich zu durchdringen, helfen etablierte Methoden und Standards:

  • Business Process Model and Notation (BPMN 2.0): Als ISO-Standard (ISO/IEC 19510) die universelle Sprache zur Visualisierung und Spezifikation von Geschäftsprozessen. BPMN-Diagramme ermöglichen eine präzise Darstellung von Kontrollflüssen, Datenobjekten, Verantwortlichkeiten (Pools/Lanes) und können als Basis für die Prozessautomatisierung (z.B. in Workflow-Engines) oder für Simulationen dienen.
  • Wertstromanalyse (Value Stream Mapping – VSM): Eine Methode aus dem Lean Management, die hilft, den gesamten Prozessfluss (End-to-End) zu visualisieren und gezielt nicht-wertschöpfende Tätigkeiten (Muda), Engpässe (Bottlenecks) und überhöhte Durchlaufzeiten zu identifizieren und quantifizieren.
  • Workshops und (strukturierte) Interviews mit Stakeholdern: Die Fachexperten und Prozessbeteiligten verfügen über das implizite Wissen. Durch strukturierte Erhebungstechniken lassen sich deren Erfahrungen und Anforderungen an einen optimierten Soll-Prozess systematisch erfassen.
  • Process Mining: Ein datengetriebener Ansatz, der Event-Logs aus bestehenden IT-Systemen (ERP, CRM etc.) nutzt, um die tatsächlichen digitalen Fußabdrücke von Prozessen zu rekonstruieren und zu analysieren. Techniken wie Discovery, Conformance Checking (Abgleich von Ist-Modell mit Soll-Modell) und Enhancement (Optimierungsvorschläge) ermöglichen eine objektive Bewertung der Prozessausführung.

Diese analytische Vorarbeit ist keine Zeitverschwendung, sondern eine entscheidende Investition, um Fehlinvestitionen in unpassende Software oder aufwendige Re-Designs nach dem Go-Live zu vermeiden und die Grundlage für eine nachhaltige Prozessverbesserung zu schaffen.

Low-Code/No-Code: Verlockende Abkürzung oder Architektonische Falle?

Low-Code/No-Code (LC/NC)-Plattformen versprechen eine beschleunigte Anwendungsentwicklung und die Befähigung von "Citizen Developers" ohne tiefgreifende Programmierkenntnisse. Dies klingt nach einer idealen Möglichkeit zur schnellen Digitalisierung von Prozessen – ist aber mit erheblichen Risiken verbunden, wenn die Governance fehlt:

Risiken:

  • Beschleunigung des Falschen ohne Validierung: Ein schlecht durchdachter oder nicht optimierter Prozess wird damit nur schneller in eine digitale Form überführt, ohne dass dessen inhärente Logik oder Effizienz validiert wurde.
  • Entstehung unkontrollierter Schatten-IT: Unkoordinierte LC/NC-Anwendungen können zu schwer wartbaren Insellösungen führen, die nicht in die bestehende IT-Architektur integriert sind, Datensilos erzeugen, Sicherheitslücken aufweisen und Compliance-Anforderungen (z.B. DSGVO) verletzen.
  • Begrenzte Skalierbarkeit und Enterprise-Readiness: Nicht jede LC/NC-Lösung ist für komplexe, transaktionsintensive Kernprozesse, anspruchsvolle Datenmodelle oder enterprise-grade Sicherheits- und Integrationsanforderungen ausgelegt.

Chancen bei strategischem Einsatz:

  • Rapid Prototyping und Proof of Concepts (PoCs): Ideen für Prozessoptimierungen oder neue digitale Services schnell visualisieren, testen und Feedback von Endanwendern einholen.
  • Automatisierung klar definierter, departementaler Prozesse: Gut verstandene, standardisierte Abläufe mit begrenzter Komplexität effizient abbilden und die Fachbereiche entlasten.
  • Ergänzung von Kernsystemen (z.B. via APIs): Als leichtgewichtige Frontends für Legacy-Systeme dienen oder spezifische funktionale Lücken flexibel schließen.

Auch hier gilt: Erst den Prozess strategisch analysieren, optimieren und dokumentieren – dann das passende technologische Werkzeug auswählen, sei es eine Standardsoftware, eine Individualentwicklung oder eine LC/NC-Lösung im Rahmen einer klaren IT-Governance.

Mehr als nur Technik: Der Mensch im Wandel der digitalen Transformation

Ein oft unterschätzter Faktor für den Erfolg von Digitalisierungsinitiativen ist das Change Management. Neue Tools und digitalisierte Prozesse verändern etablierte Arbeitsweisen und erfordern neue Kompetenzen. Das braucht eine proaktive Kommunikationsstrategie, transparente Informationen über Ziele und Auswirkungen, adäquate Schulungsprogramme und die aktive Beteiligung der betroffenen Mitarbeiter in allen Phasen. Wenn Mitarbeitende die Notwendigkeit und den Nutzen der Veränderungen nicht verstehen oder sich übergangen fühlen, fehlt die Akzeptanz. Die Folge: Frust, Widerstand, suboptimale Nutzung der neuen Systeme und letztlich das Scheitern der Initiative. Erfolgreiche Digitalisierung ist somit nicht nur eine technologische, sondern maßgeblich eine organisatorische und kulturelle Herausforderung.

Fazit: Gute Prozesse stärken, statt schlechte zu kaschieren

Die Reihenfolge ist für den nachhaltigen Erfolg entscheidend: Zuerst kommt der optimierte Prozess, dann das unterstützende technologische Werkzeug. Software – ob Standardlösung, Individualentwicklung oder Low-Code-Anwendung – kann gut definierte und effiziente Prozesse enorm unterstützen. Sie macht sie nachvollziehbarer, messbarer, schneller und robuster gegenüber Fehlern. Doch sie ersetzt niemals die Notwendigkeit einer sauberen, methodisch fundierten Prozessarbeit und einer klaren Prozessverantwortung (Process Ownership).

Wer diesen fundamentalen Unterschied versteht und in seiner Digitalisierungsstrategie berücksichtigt, spart nicht nur signifikante Kosten und vermeidet Frustrationen, sondern erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeit seiner Projekte und schafft echten, messbaren Mehrwert für das Unternehmen.


Weiterführende Links zum Vertiefen:

Zur Prozessmethodik und -management:

Zu Low-Code/No-Code und Governance: